Stufen der Grundrechtsprüfung

 

Die Grundrechtsprüfung wird zumeist in mehreren Stufen vorgenommen:

(1)  Prüfung, ob die staatliche Maßnahme den Schutzbereich eines Grundrechts betrifft.

(2)  Falls dies zutrifft, ist die Frage zu stellen, ob die Maßnahme eine Beeinträchtigung des Grundrechts darstellt. Falls das vorliegt, ist ein Indiz für die Verfassungswidrigkeit darin zu sehen.

(3)  Dann ist zu beurteilen, ob die Beeinträchtigung im Schutzbereich durch Grundrechtsschranken gerechtfertigt werden kann.

 

 

I.      Schutzbereich

 

1.      Grundlagen

Die Grundrechte schützen jeweils bestimmte Bereiche oder Umstände aus der Sphäre des Grundrechtsinhabers. Das können Verhaltensweisen, Rechtsgüter oder Eigenschaften des Grundrechtsinhabers sein.

 

2.   Die Elemente des Schutzbereiches

a)  Der sachliche Schutzbereich umfasst die Menge jener Verhaltensweisen, Rechtsgüter, Eigenschaften oder Situationen des Grundrechtsinhabers, die nach dem Wortlaut des entsprechenden Grundrechts geschützt sind. Grenzen des Schutzbereichs und Schrankenvorbehalte unterscheiden sich insoweit, dass nur letzte mit Hilfe einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu bestimmen sind.

 

b)  Mit dem personalen Schutzbereich werden die Personen umschrieben, die durch das betroffene Grundrecht geschützt werden (Grundrechtsträger). Der Schutzbereich kann nur verletzt werden, wenn es sich um diese Person handelt, und nur diese Person kann einen Eingriff in ihren eigenen Schutzbereich vor Gericht geltend machen. Alle natürlichen Personen sind Grundrechtsträger.

 

c) Wird ein Verhalten eines Grundrechtsträgers vom Schutzbereich mehrerer Grundrechte erfasst, so kann das eine Grundrecht das andere verdrängen (Grundrechtskonkurrenz).

 

 

II.      Beeinträchtigung

 

1.      Grundlagen

Damit eine Einwirkung des Staates in den Schutzbereich des Grundrechts eine Grundrechtsbeeinträchtigung darstellt, muss eine Einwirkung in die Grundrechtsfunktion vorliegen.

 

2.   Arten der Beeinträchtigung

a)   Klassischer Eingriff

      Bei den Abwehrfunktion eines Grundrechts stellt eine Einwirkung im grundrechtlichen Schutzbereich eine Beeinträchtigung dar, wenn sie als Eingriff eingestuft werden kann.

 

b)   Sonstige Eingriffe

      Es geht dabei um faktische Einwirkungen durch Realakte, die zu keiner verbindlichen Regelung im Grundrechtsbereich führen, sondern eine geschützte Tätigkeit behindern oder gefährden.

 

c)         Diskriminierung

      Bei Gleichheitsgrundrechten liegt eine Grundrechtsbeeinträchtigung darin, dass die Verwendung eines bestimmten Differenzierungskriteriums oder eine Ungleichbehandlung zu bestimmten Belastungen des Grundrechtsinhabers führt.

 

d)   Bei Leistungsgrundrechten liegt eine Beeinträchtigung in der Verweigerung der fraglichen Leistung des Staates.

 

e)   Schutz vor Dritten

      Wird ein zureichender Schutz vor Dritten verweigert, liegt eine Beeinträchtigung im Schutzbereich vor. Als Sonderfall dazu liegt eine Grundrechtsbeeinträchtigung vor, wenn staatliche Organe bei der Auslegung und Anwendung des Privatrechts die Ausstrahlwirkung der Grundrechte nicht beachten. Dies ist nicht einfach zu eruieren. Lt. BVerfG liegt eine Beeinträchtigung vor, wenn die Entscheidungen Auslegungsfehler erkennen lassen, die auf einer unrichtigen Auffassung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang des Schutzbereiches beruhen.

 

3.   Fehlen einer Beeinträchtigung

a)   Bei manchen Grundrechten ist der Gesetzgeber zur Ausgestaltung berechtigt, manchmal sogar verpflichtet. Diese Ausgestaltung stellt keine Grundrechtsbeeinträchtigung dar. Eine zulässige Grundrechtsausgestaltung dürfte eine Beeinträchtigung ausschließen, also müssten diese bei der Stufe der Beeinträchtigung und nicht auf der Stufe der Rechtfertigung geprüft werden.

      Die Ausgestaltung darf nur der realen Entfaltung der mit dem betroffenen Grundrecht verfolgten Zielen dienen. Die Verfolgung sonstiger öffentlicher Ziele genügt nicht.

 

b)         Grundrechtsverzicht

      An einer Beeinträchtigung kann es fehlen, wenn der Betroffene in die Beeinträchtigung einwilligt

 

4. Grundrechtsverpflichteter (Grundrechtsbindung)

Eine Grundrechtsbeeinträchtigung liegt nur vor, wenn der Eingreifende durch das Grundrecht gebunden ist. Die gesamte öffentliche Gewalt, soweit sie durch das GG konstruiert ist, ist an die Grundrechte gebunden (Art 1 III GG).

 

 

III.      Schranken bzw. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen

 

1.      Grundlagen

Möglichkeiten der Rechtfertigung von Beeinträchtigungen

Beeinträchtigende Maßnahmen müssen nicht gleich verfassungswidrig sein, sondern sie können gerechtfertigt sein, wenn die Beeinträchtigung verhältnismäßig ist.

Schutzbereich und Beeinträchtigung bestimmen die grundsätzliche Reichweite der grundrechtlichen Gewährleistung, weshalb bei Vorliegen einer Beeinträchtigung im Schutzbereich ein Indiz für die Verfassungswidrigkeit gegeben ist.

a)   Eingriffe

      Erfolgt der Eingriff durch einen Gesetzesvorbehalt oder kollidierendes Verfassungsrecht, dann kann dieser dadurch gerechtfertigt sein. Das entsprechende Gesetz bzw. die Verfassungsnorm setzen dem Grundrecht eine Schranke. Andersartige bzw. zusätzliche Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung gibt es nicht.

 

b)   Sonstige Formen der Beeinträchtigung

      Bei der Diskriminierungs- und Ausstrahlwirkung sind geringfügige Einschränkungen möglich.

      Bei der Verweigerung des Schutzes vor Dritten sind Gesetzesvorbehalte unmöglich.

 

2.         Rechtfertigung aufgrund eines Gesetzesvorbehalts

a)   Art und Form der Schranken

      Von einem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt iwS wird gesprochen, wenn das betreffende Grundrecht den Gesetzgeber zu einer Beschränkung, Regelung o. ä. im Schutzbereich des Grundrechtes ermächtigt.

 

      Eine Ermächtigung zur näheren Regelung muss nicht unbedingt eine Schranke idS sein, sondern sie kann auch den Schutzbereich näher bestimmen und ausgestalten. Eine solche Ermächtigung zur näheren Regelung liegt vor, wenn das Grundrecht die Formulierung "Das Nähere regelt ein Bundesgesetz" enthält.

 

      Einschränkungsvorbehalte iSd Art 19 I GG sehen regelmäßig eine Einschränkung "durch oder auf Grund eines Gesetzes" vor. Hiermit sind förmliche Gesetze gemeint, so dass die Einschränkung unmittelbar durch förmliche Gesetze oder durch untergesetzliche Normen oder Verwaltungsakte erfolgen kann.

 

      Wird ein Grundrecht durch ein Gesetz eingeschränkt, so muss dieses formell rechtmäßig sein (sog Elfeskonstruktion).

 

b)   Schranken-Schranken

      Wird ein Grundrecht aufgrund Gesetzesvorbehalt beschränkt, so ist zu prüfen, ob die Einschränkung verhältnismäßig ist. Dies schließt eine Abwägung der kollidierenden Rechtsgüter ein.

      Sachlich kommt es auf die Schwere des Eingriffs sowie das Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe an.

 

3.      Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht

a)      Beschränkungsgrundlage

Grundrechte können dann durch kollidierendes Verfassungsrecht beschränkt werden, wenn die Grundrechtsausübung des einen in den Grundrechtsbereich eines anderen eingreift (sog verfassungsimmanente Schranke).

 

b)      Anwendungsbereich

Das Institut der verfassungsimmanenten Schranke wurde erstmals bei schrankenlos gewährleisteten Grundrechten entwickelt (siehe zB Art. 5 III GG) und findet dort ihren Hauptanwendungsfall.

Die verfassungsimmanenten Schranken kommen jedoch auch bei allen andern Grundrechtsbeschränkungen (zB aufgrund Gesetzesvorbehalt) zum tragen.

 

c)   Schranken-Schranken

Bei der Abwägung der einzelnen Grundrechtsbeschränkungen ist steht der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Es sollte jedoch durch die Abwägung die einzelne Grundrechtsausübung im Kernbereich nicht gänzlich abgegraben werden (Grundsatz der praktischen Konkordanz - Hesse).